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Alle Träger von Umkehrbrillen teilen sich die Empfindung von mehr oder weniger großem Unwohlsein bis zur dramatischen Übelkeit, womit die Gemeinsamkeiten auch bereits enden. Weitere Übereinstimmungen in den Effekten ereignen sich offenbar nach Forschungs- oder Meinungsgruppen.
Bereits Kottenhoff dokumentiert diesen Umstand, wenn auch seine Übersicht (Kottenhoff 1961, 38) leider nur wenige Beobachtungsfälle enthält. Es mag richtig erscheinen, wenn Linden (Linden et al. 1999) die Bildumkehr als Mythos bezeichnet. Die Behauptung allerdings, ausser einer “visuomotorischen Anpassung” gäbe es praktisch keine Effekte, schiesst über das Ziel hinaus und muss aufgrund eigener Erfahrung als unvollständig angesehen werden. Wo sich diese Behauptung auf Lesetests oder shape-from-shading-tests stützt, wird diesen Testverfahren die Beweiskraft abgesprochen, da beide Verfahren zu stark intentionellen Einflüssen unterliegen oder durch die Versuchspersonen manipuliert werden könnten.
Insofern fMRI-Scans als Beleg für unveränderte Hirnfunktionalität herangezogen werden, mögen sie auf dem Gebiet neuronalen Geschehens als brauchbare Unterlage dienen.
Die im Versuch erlebten und beschriebenen Umkehrungen von Augen und Mündern beruhen wohl auf einer Änderung der Bildinterpretation. Sie wurden als Ergebnisse von Wünschen und Bedürfnissen erlebt, als durchaus bewusste Tätigkeit und nicht als Veränderung des Gesehenen. Das gesehene Bild blieb durch die Umkehrung hindurch in unveränderter Form sichtbar.

Nach dem heutigen Stand muss die Ansicht einer “Bildumkehr” im Sinne einer Wiederherstellung des Bildes unter den Bedingungen einer Umkehrbrille oder eines Umkehrspiegels als naiv angesehen werden. Die völlige Restitution der Sehweise in neuer Aufrichte bedürfte wohl einer neuronalen Neuverdrahtung, die sicher nicht in den von Kohler angegebenen Zeiträumen erfolgen könnte und bei Erwachsenen auch besonderer Umstände bedürfte, die wohl über das Tragen einer Umkehrbrille hinausgehen müssten.
In vielen Kommentaren während der Tragezeit wurde im Gespräch die Idee der Bildumkehr an mich herangetragen. Die meisten Menschen, die von Umkehr-Brillen-Versuchen gehört haben, gingen davon aus, “das Bild drehe sich dann irgendwann herum". Schwerkraft, Übung, Lernen oder Gewöhnung wurden als Ursachen apostrophiert.

Dieses hartnäckige Fortbestehen des Mythos der Bildumkehr verdient einen Seitenblick.

Einige hundert Jahre war die Vorstellung vom umgekehrten Bild auf der Netzhaut ein Gemeingut – für die Betrachtung von aussen mit jener durchschlagenden Schlüssigkeit, die weiteres Nachfragen erübrigt. Erst im 19. Jahrhundert konnte die Frage nach dem Netzhautbild aus einer physikalischen Betrachtungsweise in eine physiologische übergehen und bezog ihren neuen Anschauungsort im Inneren des Menschen. Folgerichtig erweiterte sich der Betrachtungskreis um Psychophysik und Psychologie.
Neue Forschungen und Fragestellungen bestätigten die allgemein menschliche Erfahrung, dass Sinneswahrnehmung der eigenen Aktivität bedarf. Die Einsicht in die genuine Eigenleistung der Wahrnehmungsorgane und die Möglichkeit, durch innere Tätigkeit einen persönlichen Einfluss auf das Wahrgenommene zu bewirken, schufen Grundlage und Nahrung für ein Verständnis, was die Ursache für das Wahrnehmungsergebnis ins Menscheninnere
verlegt.
Eine so gewonnene Anschauung lässt die Bildumkehr beim Tragen einer Umkehrbrille nicht nur als wünschenswert, sondern auch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als folgerichtig erscheinen und mag dem Mythos der Bildumkehr als Nährboden dienen.
Als Quelle für den Mythos kommt den Innsbrucker Experimenten durch Erismann und Kohler eine besondere Bedeutung zu. Es lässt sich erahnen, wie unter schwierigen äusseren Bedingungen diese epochemachenden Versuche tatsächlich zu überraschenden und überzeugenden Ergebnissen führten, unter denen sicher auch Erlebnisse von Umkehrungen waren. Nach meiner Einschätzung presst der im Nachgang produzierte Film die Gegebenheiten in Bilder, deren Überzeugungskraft groß ist, die jedoch durch die notwendige Veranschaulichung und das Medium selbst zu einer Vereinfachung und Schieflage geführt haben.
Die nach dem Film erschienenen Veröffentlichungen von Kottenhoff (Kottenhoff 1961) und Kohler (Kohler 1966) sind in ihren Beschreibungen hinsichtlich der Bildumkehr bedeutend zurückhaltender und stützen die hier vertretene Auffassung.
Insofern die die neueren neurologischen Untersuchungsmethoden mittels Scan und bildschaffender Methode das Gehirngeschehen darstellen, ist der Blick von Aussen als wissenschaftliche Betrachtungsweise zurückgekehrt. Die aufgetretenden Effekte machen deutlich, dass ausgehend von einem Anschauungsort im Inneren des Menschen ein weiterer Betrachtungspunkt gewonnen werden muss, der die naturwissenschaftliche Erkenntnis zu ergänzen vermag.