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Berichte und Beobachtungen

Die nachfolgenden Berichte wurden bis auf jene über Nachwirkungen während des Versuchs diktiert. Bei der Übertragung in diesen Bericht wurden sie durchgesehen und ergänzt.

Chronologische Berichte

2. Tag 26. Februar 2009
Erste Erfahrungen

Es gibt eine deutliche Orientierung an den Orthogonalen. Alle meine Bewegungen setze ich in Relation zu den orthogonalen Achsen. Bin ich zu Fuß unterwegs, erreiche ich meine anvisierten Ziele immer auf geradem Wege. Alle sichtbaren Vertikalen benutze ich zur Orientierung und taste diese auch in meinem Blickfeld vertikal ab. Bei nicht-orthogonalen Kopfbewegungen reisst das Blickfeld aufgrund mangelnder Trägheit ab und ich muss mich dann im neuen Bild erneut ausrichten. Dies gilt auch für angesteuerte Gegenstände: Bewege ich mich auf einen Stuhl oder Tisch zu, achte ich darauf, dass ich mich orthogonal zu deren im Blickfeld erscheinenden Kanten bewege. Verzichte ich auf diese Orientierungshilfen, bin ich stark verwirrt.

Erscheinungen und Objekte

Insbesondere bei oder nach nicht-orthogonalen Bewegungen erscheinen Objekte auf merkwürdige Weise in meinem Blickfeld. Beim Einsteigen ins Auto sehe ich die Scheibenwischer und den Holm, wo ich zuvor nur die Türöffnung gesehen habe. Sitze ich im Auto, stört die vordere Säule den Blick ganz wesentlich.
Beim Gehen fällt mir auf, dass die Objekte auf meiner linken Seite näher an meinem Körper sind, als vermutet. Auf der rechten Körperseite finde ich die geschätzten Abstände durch berühren als korrekt bestätigt.
Eine Vielzahl von Objekten in meinem Blickfeld erscheint mir als Belastung. Ich habe das Empfinden, als müsse ich den sichtbaren Objekten mit eigener Anstrengung einen Begriff zuordnen.

Zuordnung von Begriffen

Gestern Abend im Kino wurde von einem Känguru-Hinterbein gesprochen und dazu eine Zeichnung präsentiert, die mich auf Anhieb nicht an ein Känguru-Hinterbein erinnerte. Eine kurze Weile musste ich nachdenken, was wohl ein Känguru ist.
Heute fehlt mir schon seit Stunden die Formulierung der Begriffe axial und radial.

Körperliche Symptome

Erfreulicherweise bin ich frei von Übelkeit. Störung des Gleichgewichts verspüre ich nur, wenn ich im freien Raum ohne sichtbare Vertikale Hindernisse überwinden muss. Das ist ein unsicherer Balanceakt, bei dem ich meinen Körper nicht aufrichten kann.
Bei schneller Blickwendung, wie vor dem Überqueren der Strasze, entsteht Unsicherheit über das erfasste Bild und meine Position darin, wenn ich meinen Kopf nicht genau auf der Horizontalen wenden kann. Das erzeugt eine gelinde Störung des Gleichgewichtsempfindens.
Gleichgewichtsstörungen ein paar Minuten nach dem Aufsetzen der Brille am Morgen. Druckstellen an der Nase, Schmerzen an den Ohren, die Brillenhalterung wurde verändert.

Bewegungskoordination

Habe beim ersten Puzzletest 52 Minuten gebraucht. Bei allen Bewegungen im körpernahen Raum, die mit Händen und Fingern allein ausgeführt werden, habe ich grosze Koordinationsprobleme. Ich erlebe, wie ich drei verschiedene Bewegungen, die des Kopfes und die beider Hände, nicht in Einklang bringen kann. Halte ich inne und prüfe eine einzelne Bewegungsrichtung, kann ich diese verstehen. Sobald ich aber versuche, die zwei anderen Bewegungen dazuzuordnen, entschwindet die Vorstellung sofort wieder. Es erscheint mir völlig unglaubhaft, dass die gesehenen Bewegungen mit den durchgeführten Bewegungen irgendeinen Zusammenhang haben. Dieser Effekt ist besonders eklatant, wenn sich beide Hände im freien Raum bewegen, wie es der Fall ist, wenn ich Zahnpasta auf meine Zahnbürste geben will. Die Hilfsmittel der Wahl in all diesen Fällen ist die Berührung der Objekte und die Zuhilfenahme der Orthogonalen.
Während dieser Erlebnisse entfaltete sich in mir groszes Verständnis für eine tiefe Frustration und wütendes Gequengel, wie man es von Kindern kennt.
Grosze Schwierigkeiten bereitet mir das Essen. Zusätzliche Objekte im Blickfeld sind störend, ebenso wie runde Teller. Die Unglaubhaftigkeit meiner Bewegungen führt dazu, dass ich beim Suppeschöpfen mit der Schöpfkelle unter dem Rand der Suppenterrine hängen bleibe und sie dort nicht mehr wegbekomme, als sei sie magnetisch.
Das Geschehen auf dem Teller ist besonders dramatisch. Wie fein die Abstimmung sein muss zwischen dem Winkel des Bestecks und der Bewegungsrichtung, wird beim Salatessen besonders deutlich. Nach dem 30 minütigen Verzehr eines Stücks Himbeertorte sieht mein Teller aus wie nach einer Tortenschlacht. All dies ist leicht frustrierend. Die nicht-orthogonale Bedienung des Zuckerstreuers ist vollends verwunderlich und extrem irritierend.
Kaffee trinken einschlieszlich Kaffee einfüllen, Zucker aus der Tüte einfüllen und umrühren stellt nur ein geringes Problem dar.
Im Zweifelsfalle kann ich die Bedeutung des Sehbildes – beispielsweise beim Umrühren in der Tasse – kurzfristig unter die Wahrnehmung der ausgeführten Bewegung stellen.
Gehe ich auf der Strasze beispielsweise an einem Aufsteller vorbei, ziehe ich den Kopf ein – als hinge über mir ein Hindernis.
Ich habe den Eindruck, dass auch ohne die noch nicht eingetroffene Lesehilfe die Bewegung des Mauszeigers am Computer einen sehr guten Übungsfall darstellt.

Umweltreaktionen

Vorübergehende Passanten werfen mir meist nur kurze Blicke zu, manche schauen länger und in einem Fall wurde gelacht. In den Fällen wo ich angesprochen wurde, mutmaszte man eine Augenerkrankung.

Die nachfolgenden Berichte wurden bis auf jene über Nachwirkungen während des Versuchs diktiert. Bei der Übertragung in diesen Bericht wurden sie durchgesehen und ergänzt.

3. Tag 27. Februar 2009

Am gestrigen Tag, dem zweiten Tag des Brilletragens hatte ich am Abend den Eindruck, dass bei horizontaler Kopfbewegung die Stabilität der Horizontalen sich geringfügig verbessert hatte. Möglicherweise ist dies jedoch auf das ruhige Sitzen und die vertraute Umgebung zurückzuführen.

Die bislang aufgetretenen Unsicherheiten beim Aufsetzen der Brille am Morgen waren heute merklich reduziert. Geh- und Greifbewegungen ging ich recht zügig an und musste mich selbst einbremsen um nicht durch Überhastung Fehler zu produzieren. Die Zahnpasta will immer noch nicht auf die Zahnbürste.
Meine Gehbewegung wird insgesamt schneller und zuversichtlicher. Zu den orthogonalen Achsen nehme ich heute schon Bögen in die Planung meines Gehweges hinzu. Beim Durchgang durch Türen vollziehe ich eine komplette Drehung um meine Achse. Beim Gehen befinde ich mich nicht in der Aufrichte. Auch wurde ich hingewiesen, dass meine Knie nicht durchgedrückt sind. Das entspricht meinen eigenen Empfindungen. Vom Knie an abwärts ist das Gefühl der normalen Muskelspannung gestört, dieser Teil fühlt sich nachgiebig an.

Als wir heute beim Architekten waren, fiel es mir erstaunlich leicht, auf Details in Plänen zu zeigen. Von der Zielsicherheit war ich selbst überrascht.
Der Abstand zu Objekten auf meiner linken Körperseite ist immer noch geringer als vermutet. Allerdings kann ich durch Erinnern der Verhältnisse und Schätzung des Abstandes den Fehler teilweise kompensieren.
Sitze ich auf einem Stuhl und schaue zu stehenden Gesprächspartnern auf, fühle ich einen Anflug von aufsteigendem Unwohlsein.

Bemerkung zum Lesen

Wegen der noch nicht vorhandenen Sehhilfe sind meine Lesemöglichkeiten begrenzt. Da das Schriftbild ohnehin nicht mehr dem gewohnten entspricht, ist es mir völlig gleichgültig ob ich ein Buch in aufrechter Position oder umgekehrt lese.

Zum Puzzletest

Der Verlauf des Tests am ersten Tag erscheint mir "regulär". Die benötigte Zeit gibt ein korrektes Bild von den real aufgetretenen Schwierigkeiten. Das Ergebnis des zweiten Tests ist nach meiner Ansicht nicht in gleicher Weise entsprechend. Geringe Differenzierungsmöglichkeiten stellten neben das Koordinationsproblem noch zusätzliche Schwierigkeiten der Bilderkennung. Dies hat einen verlangsamenden Effekt hervorgerufen. Nach meinem Dafürhalten nahm jedoch die Koordinationsfähigkeit zu.

Der heutige Test mit vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten im Bild verlief demgemäsz rasant schneller.


4. Tag 27. Februar 2009
Gehen

Mittlerweile kann ich gut und weitgehend auf Bewegungen entlang der Orthogonalen verzichten. In kritischen Situationen sowie beim Anvisieren von Stühlen oder Schränken kehre ich jedoch wieder zu dieser Hilfe zurück. Ein Gehversuch auf der Asphaltstraße entlang einer Linie von Feuchte erzeugt einen unregelmäszigen Gang mit Schwankungen.
Bei Treppen kann ich nicht beurteilen, ob diese nach oben oder nach unten führen. Treppen, bei denen ich an den Seiten keine optischen Anhaltspunkte habe, überwinde ich in Balancierhaltung mit leicht ausgestreckten Armen.

Handbewegungen

Besonders große Schwierigkeiten bereiten mir Bewegungen beider Hände gleichzeitig. Dies wird noch gesteigert wenn die Bewegungen ohne haptische Anhaltspunkte im freien Raum ausgeführt werden. Zahnpasta auf die Zahnbürste zu geben ist ein längeres und nur teilweise erfolgreiches Unterfangen. Beim Essen mit Messer und Gabel bleiben mir die Bewegungen beider Geräte rätselhaft und unglaubwürdig.


5. Tag 01. März 2009

Heute gab es das erste Opfer der Sehschwäche zu beklagen. Es befanden sich viele Objekte auf einem kleinen, runden Tisch und beim Versuch, dort mehr Übersicht zu schaffen, erwischte ich mit dem Jackett-Ärmel die Cappuccino-Tasse.

Gesichtererkennung

Besonders große Schwierigkeiten bereiten mir Bewegungen beider Hände gleichzeitig. Dies wird noch gesteigert wenn die Bewegungen ohne haptische Anhaltspunkte im freien Raum ausgeführt werden. Zahnpasta auf die Zahnbürste zu geben ist ein längeres und nur teilweise erfolgreiches Unterfangen. Beim Essen mit Messer und Gabel bleiben mir die Bewegungen beider Geräte rätselhaft und unglaubwürdig.

Gehen

Das Gehen im freien Raum ist mir ein Leichtes und ein Vergnügen. Mit heranrückenden Gegenständen von rechts und links nimmt die Unsicherheit zu. In engen Durchgängen kommt es gelegentlich zu kleinen Anstöszen auf beiden Seiten.
In der Mitte des Marktplatzes sehe ich mit erhobenem Kopf die Giebel der Häuser und den Kirchturm in einem Panoramabild. Drehe ich mich um meine eigene Achse, setzt schon recht bald Schwindel ein.
Kleine Unebenheiten wie Schneereste oder abgesenkte Bordsteinkanten machen mir keine Probleme. Dennoch bemerke ich, wie ich beim Gehen die Zehen anhebe. Muskeln und Bänder am Schienbein reagieren auf diese ungewohnte Belastung. Insgesamt erscheinen mit Unregelmäßigkeiten auf dem Boden dramatischer als in der Erinnerung.

Zeigebewegung

Es ist mir nahezu unmöglich auf einem groszen Outdoor-Stadtplan (senkrecht stehend) einem Straszenverlauf mit dem Finger zu folgen. Es scheint keine Bewegung zu geben, die den Finger in die gesehene Richtung zu bewegen vermag (Die Pläne beim Architekten lagen auf dem Tisch und verkehrt herum).

Am Abend scheint sich bei Kopfwendungen (rechts-links) die Horizontale zu stabilisieren.


6. Tag 02. März 2009

Nachbild

Beim gestrigen Abtrocknen der Beine nach dem Duschen mit geschlossenen Augen sah ich in einem "unaufgeforderten Nachbild" mich die Beine abtrocknend wie im Original. Das Bild war in der Normallage (wie ohne Brille). Diese Erscheinung bleibt mir völlig rätselhaft weil ich keinen bewussten Anlass für dieses Bild gegeben habe und auch definitiv die Augen geschlossen hatte.
Als ich heute versuchte, mir meine Kaffeetasse (rot gepunkteter Blechbecher) visuell vorzustellen, erschien mir diese als auf dem Kopf stehend (Sichtweise mit Brille). Mit Anstrengung bemühte ich mich, ein aufrecht stehendes Bild der Kaffeetasse zu erzeugen. Dies erschien wie im "Vordergrund", wobei das Bild der umgekehrten Tasse schwach im Hintergrund verblieb.

Rauch

Rauch ist eine überaus merkwürdige Erscheinung in meinem Gesichtsfeld. In der Regel bewegt er sich korrekt, mitunter aber scheint er eigenwillige Bewegungen auszuführen. Diese irritieren mich nicht, wecken aber spontan meine Aufmerksamkeit. Es bereitet mir Vergnügen, diesen Bewegungen zuzuschauen.

Kopfbewegungen

Die Horizontale scheint sich bei Kopfbewegungen weiter zu stabilisieren. Mehrachsige Bewegungen des Kopfes führen immer noch zu Irritationen und Verwirrnis. Schränke, Öfen und Behältnisse in die ich horizontal sehe, haben einen "magnetischen" Rand. Versuche ich beispielsweise, ein Stück Holz in den Ofen zu legen, bleibt dieses gerne am oberen Rand "kleben". Ich versuche verzweifelt, eine Bewegung zu finden, die es dort wieder entfernen kann. Als Notlösung kann ich es nur zu meinem Körper hinbewegen.
Eine Flasche aus dem Kühlschrank zu nehmen, der mit durchsichtigen Glasböden ausgestattet ist, ist keine leichte Aufgabe. Im Zweifelsfalle bücke ich mich um eine frontale Ansicht zu gewinnen. Bei Aufgaben dieser Art gewinne ich eine langsam zunehmende Sicherheit.

Alte Bilder

Neige ich den Kopf bis in die Vertikale seitwärts, kann ich die Objekte in alter Weise (wie ohne Brille) sehen. Dieser Effekt ist wie eine angenehme Erinnerung. Schaue ich auf einen liegenden Menschen und kann dadurch sein Gesicht in "Normallage" sehen, ist das eine erfreuliche, angenehme Situation.
Beobachtungen von Anderen:

Bei manchen Gelegenheiten spreche ich lauter.

Bemerkung von Hannah Bindewald:

Anfangs war der Umgang mit der neuen Situation, wie andauerndes Versuchen und oftmals auch Kommentare von anderen, nicht so erfreulich. Manchmal wurde wortwörtlich der Löffel abgegeben (beim Aufgeben des Salats auf den Teller beispielsweise). Dazu kam es aber nur selten. Trotzdem drückte das Ganze aufs Gemüt. Nach etwa drei Tagen wurden die Bewegungen mutiger und Rolf ist wesentlich ruhiger geworden. Als die Zeit knapp wurde beim Abschicken eines Antrags, musste er zusehen, wie ich versuche mit dem Computer zurechtzukommen, den er "normalsichtig" wesentlich schneller im Griff gehabt hätte. Das wird jetzt durchgestanden, genau wie das minutenlange Hantieren am Ofen, bis er endlich zu ist.
Auch alle Bewegungen, vom Laufen übers Greifen und Hinsetzen bis hin zum Kaffee-Einschenken sind verlangsamt und ruhig-konzentriert, oft sehr tastend. Nur draussen im Freien, auch in der Stadt auf breiten Straszen, wird der Schritt wieder sicher.


9. Tag 05. März 2009

Morgendlicher Optimismus

Beim Frühstück befanden sich so viele Gegenstände auf dem Tisch, dass ich mich veranlasst sah, meine Kaffeetasse zum Einschenken anzuheben. Das ging vorsichtig und eine Weile gut, bis sich der Füllstand dem oberen Rand näherte und schief aussah. Beim Versuch der Korrektur ergoss sich der Kaffee dann über die Hand, den Tisch...

Befand mich den ganzen Tag in einer unvertrauten Umgebung. Hügeliges Gelände mit Treppen, geschwungene auf- und absteigende Wege verschiedener Breite und Beläge erforderten eine Menge Konzentration. Da ich Neigungen grundsätzlich nicht gut sehen kann, richte ich meinen Gang so ein, dass unerwartete Bewegungen und kleine Stolperer abgefangen werden können. Somit gehe ich fast nie aufrecht und diese Gangart wurde als "hutzelig" beschrieben – was ich für einen bezeichnenden Ausdruck halte. Das zusätzliche Tragen von Lasten (Pakete vor der Brust) verstärkt diesen Effekt.
Am Abend fühlte ich mich erschöpft.

Ein neuer Eindruck

Da ich in fremder Umgebung war, fehlte mir der morgendliche Optimismus, den ich sonst immer einbremse, um nicht gleich als erste Tat des Tages einen Treppensturz zu produzieren.
Bei einem Gespräch am Tisch nutzte ich wie immer die Gelegenheit, meinen Blick auszuruhen, das heisst, nirgendwo hin zu schauen. Aus Höflichkeitsgründen und meiner Erziehung wegen sah ich dann doch immer wieder ins Gesicht meines Gegenübers. Wie in jenen merkwürdigen "Nachbildern" ereignete sich, dass der sprechende Mund mir manchmal gedreht erschien. Es hatte den Eindruck einer Überlagerung. Da war keine Drehung, Bewegung oder Ein- und Ausblenden des Bildes vom Mund, sondern es erschien mir vielmehr so, als würde der bildgerechte Mund von einem gedrehten (neue Aufrichte) überlagert. Dieser Effekt war in unregelmäszigen Abständen wiederkehrend, ohne dabei ein Muster erkennen zu lassen. Etwas später geschah dasselbe mit den Augen. Beide Augen erschienen gleichzeitig in der neuen Aufrichte. Es ist mir nicht gelungen, diesen Effekt an Mund und Augen gleichzeitig zu beobachten.

Ab dem Abendessen hat sich der Effekt stabilisiert und ich sehe, wenn ich direkt angeblickt werde, wie mich die Augen meines Gegenübers "richtig" ansehen. Ich sehe zwar den Augenumriss wie zuvor, empfinde aber die Pupillen auf mich gerichtet. Dieser Eindruck ist definitiv seit dem heutigen Tage neu und von erfreulich-beruhigender Wirkung. Derselbe Effekt, bezogen auf den Mund, tritt momentan nicht ein. Dennoch erlebe ich um den Mund herum gelegentlich eine Zone der Unbestimmtheit.

Mir ist bewusst, dass ich in den Vorbereitungen zum Versuch auch Bilder des Thompson-Effekts gesehen habe.


10. Tag 06. März 2009

Im Laufe des Tages hat sich der beschriebene Effekt (Augen und Münder) verstärkt und stabilisiert. Schauen mich Gesichter frontal an, sehe ich in neuer Aufrichte in die Augen. Dies ist permanent, die Münder erscheinen nur manchmal – es wird Zeit benötigt – aufgerichtet, wobei die Augen jedoch nicht mehr in die alte Lage zurückfallen. Für die neue Aufrichte der Münder ist es erforderlich, dass sich diese bewegen.
Am Abend im Kino wiederholte sich der beschriebene Effekt in Reihenfolge und Intensität bei den Film-Bildern. Insgesamt aber waren diese Vorgänge schwächer. Bemerkenswert war allerdings, dass manchmal Augen und Münder der neuen Aufrichte so empfunden wurden, als sei dieses Bild "falsch" auf das gesehen Film-Bild aufmontiert. In einem einzelnen Fall – eine Person steht frei im Raum – entstand der Eindruck, als habe man den Kopf, bei der oberen Schulterpartie beginnend, falsch herum auf den Körper gesetzt. Dies trat einmalig auf.
Nach dem Verlassen des Kinos lag Neuschnee. Mein Gang war stark schwankend, ohne dass ich dabei besondere Störungen des Gleichgewichts oder starke Unsicherheit empfunden hätte.


13. Tag 09. März 2009

Lebe mich mehr und mehr in meinen neuen Alltag ein. Alles ist etwas langsamer geworden und finger-food ist mir stets willkommen. Nur wenn es schnell gehen soll nehme ich Hilfe in Anspruch. Mein timing beim Gehen hat sich weiter verbessert und kleinere Stolperer sind bereits einkalkuliert. Gegen abend bemerke ich meinen Rücken, der mir mitteilt, dass sich meine Haltung verändert hat.

Da ich eigentlich eine Menge Arbeit im Büro habe, vermisse ich sehr, mal schnell einen Text überfliegen zu können oder ein paar Zeilen zu tippen. Was ich mit der Maus kann ist unproblematisch, was gelesen sein soll nervt ein wenig. Meine Lesetests werden nicht schneller. Mag sein, mir fehlt der massive Ansporn zum schnellen Lesen. Vielleicht sollte ich mir einmal Mühe geben.

Kann auch mittlerweile ohne Zwischenfälle ganz manierlich essen, nur auf die Stäbchen habe ich beim Chinesen verzichtet.

Alle Augen sehen mich an und manchmal drehen sich die Münder, wenn sie sprechen. Auch kommt es vor, das sich das gesamte Gesicht als schwacher Eindruck dreht und ein wenig befremdlich aber nicht beunruhigend wirkt. Unterstützt wird das durch ein glattes und ebenmäsziges Gesicht.
Insgesamt ist der Effekt immer noch recht angenehm aber scheint etwas abgeschwächt, was an der Gewöhnung liegen mag.


16. Tag 12. März 2009

In der fremden Stadt sind alle Dinge wieder befremdlich. Gleich im Parkhaus fahren wir den Wendel der Auffahrt hinunter – oder ist es waagerecht? Auto, Lücke, Auto; dazwischen Linien – und hoffentlich haben sie die Schilder an der Decke hoch genug gehängt.
Drauszen ist die Stadt gestaltet: gepflasterte kleine Plätze mit tückischen Absätzen, Haltebuchten für die Busse, ein wenig schräg, wechselnde Beläge und die Kaimauer hat keine Brüstung. So schön Stadtmöblierung im allgemeinen sein kann, so lästig ist es für eingeschränkt Sehende. Abfalleimer, Fahrradständer, Pfosten, davon manche mit Ketten verbunden, sind Schikanen, durch die die Orientierung erschwert wird, weil ich ständig auf und ab blicken muss. Vermutlich wegen dieser Anstrengung bewege ich mich im Restaurant unsicher. Die Glasschalen auf der Treppe dürfen sich noch sicher fühlen, kleine Hocker, kleine Tische, alles was meinen Blick nach unten zwingt ist ein Hindernisparcours. Treppen sind mir nach wie vor rätselhaft und senden Alarmsignale aus. Ich bin immer noch unsicher, wie viele Stufen es genau sind und ob sie nach unten oder unten führen; dieser Effekt wird in der Dunkelheit noch verstärkt. Essen und Trinken, Gläser, Tassen, Teller werden pfleglich behandelt und wenn ich nicht mit Messer und Gabel essen muss, macht es auch einen recht manierlichen Eindruck.

Im heimischen Gelände fühle ich mich mittlerweile recht sicher. Treppenenden, Mauern und Büsche ermahnen mich noch zur Vorsicht, haben aber ihre erschreckende Wirkung verloren. Gelegentliche kleine Stolperer sind berücksichtigt und unaufregend. Als Übung versuche ich, den etwas gekrümmten Gang der letzten Tage wieder in seine frühere Normallage zu bringen. Dabei fällt mir auf, dass diese einen wohl leicht nach vorne geneigten Oberkörper zu beinhalten schien. Nehme ich diese Haltung jetzt ein, spüre ich deutlich den Vorwärtsdrang, der davon ausgeht.

Flüssiges Lesen fehlt mir sehr. Schnelles Überfliegen und "mal eben durchsehen" geht mir ganz und gar ab. Ich hatte den Anlass zu der Vermutung, dass mir das Motiv fehlt, nun diese seltsamen neuen Schriftzeichen zu erlernen.

Insgesamt habe ich den Eindruck, mich mit der verkehrten Bildersicht abgefunden zu haben. Die Greiffehler haben sich wesentlich verringert und ich kann sogar mit Vorsicht einen Ofen anzünden. Einen inneren Anlass zu einer Bildumkehr habe ich gegenwärtig nicht.


19. Tag 15. März 2009

Mein Alltag normalisiert sich weiter. Inzwischen kann ich mehrere Geh-Stile ausprobieren und Unebenheiten im Boden sind bei weitem nicht mehr so aufregend. Aus orthogonaler Stellung kann ich freie Treppen begehen und Gegenstände greifen und abstellen. Kann ich das Gesicht etwa in gleiche Höhe bringen, traue ich mich auch wieder, einen Ofen anzuzünden.
Alles Schräge bleibt schräg und so habe ich heute Suppe verschüttet. Wie berichtet wird, sieht es aus wie bei einem Kind, das Bewegungskoordination übt. Es ist immer noch so, dass mich eine Vielzahl von Objekten im Bild erheblich in Anspruch nimmt und stört.

Der Vorsatz, besser lesen zu wollen, trägt Früchte und meine Lesetests werden schneller.

Meiner Umgebung und mir wird das Brille-Tragen ein wenig zur Last. Man vermisst, mir in die Augen sehen zu können und auch ich würde mich freuen, wieder spontan Gesichter erkennen und lesen zu können. Die Lage der Augen hat sich in der neuen Aufrichte stabilisiert, nur bei Mündern dauert es nach wie vor eine Weile bis sie sich drehen. Gelegentlich erscheint mir ein Gesicht oder ein Kopf wie falsch montiert. Dieser Eindruck ist schwach, flüchtig und kommt nur sporadisch auf.


24. Tag 20. März 2009

Spaziergang in den schneebedeckten Bergen

Das Gehen fällt mir relativ leicht. Der Untergrund passt sich ein wenig dem Schritt an und so muss ich wenig Rücksicht nehmen auf zu vermutende Unebenheiten. Es lauern weder Schlaglöcher noch Randsteine und die Pistenraupe hinterlässt einen barrierefreien und ebenen Weg. Meine Unfähigkeit, Neigungen exakt wahrzunehmen, erweist sich gelegentlich als verhängnisvoll. Geht es nur einfach den Berg hinauf, teile ich mir meine Kräfte schlecht ein, wundere mich über Atemnot und stelle fest, zu schnell und zu steil angestiegen zu sein. Plötzliche Wechsel der Neigung sind schockierend und ständig habe ich die Empfindung, auf dem Weg abwärts zu schnell und zu steil unterwegs zu sein. Das geht mir auch mit dem Schlitten so. Insgesamt aber überwiegen die Vorteile des Schnees bei weitem und ich fühle mich gut und sicher beim Gehen auf präparierten Schnee-Wegen.


26. Tag 22. März 2009

Kleine Skitour im Skigebiet

Zu meinem Erstaunen stehe ich recht sicher auf dem Ski. Wie auch beim Gehen entsteht die Neigung, zu schnell loszurennen, was ich aber auf Grund der Vorerfahrung weitgehend regulieren kann. Leider muss ich wegen der Position der Brille und der Steigung den Kopf immer wieder und hoch anheben, was einigermaszen hinderlich ist. Beim Anstieg im Gelände verlasse ich mich grösztenteils auf die Kenntnis der gewählten Strecke und meine Erfahrung. Ich hebe den Kopf, fixiere einen sichtbaren Zielpunkt am Horizont und den Ort der notwendigen Traverse und vergewissere mich, wann ich diesen erreicht habe. Dabei achte ich sorgfältig auf die Körperbelastung und korrigiere die Fehleinschätzung der Hangneigung durch früheres oder späteres Traversieren. Obwohl ich aufgrund der Verhältnisse (verspurter Hang) keinen genauen Überblick über meine Spur haben konnte, glaube ich, diese recht ordentlich an die Streckenverhältnisse angepasst zu haben. In allen Fällen wurde der gewählte Zielpunkt erreicht. Ob dabei Umwege entstanden sind und wie ich normalsichtig die Spur angelegt hätte kann nicht beurteilt werden.
Gröszere Schwierigkeiten habe ich beim Eintreten in die Skibindung. Stehend in die rechte Bindung zu kommen ist relativ leicht. Halb liegend den linken Fusz in den linken Ski einzufädeln gelingt mir nur mit fremder Hilfe, da ich mir über Hangneigung, Position, Gleitverhalten und Gleichgewicht nicht im Klaren bin.
In steifer Haltung der Anfänger fahre ich meine ersten Bogen im Pflug (geschätzte Hangneigung 25 Grad). Mit zunehmender Fahrtstrecke und zunehmender Sicht (Prismen waren beschlagen) fühle ich mich besser und begnüge mich mit den Differenzen der Hangneigung zur Einschätzung meiner Fahrtstrecke. Später fühle ich mich in der Lage, einige Telemark-Schwünge zu fahren.

Eine Beobachtung soll hier noch Erwähnung finden. Mit etwa gleichbleibender Häufigkeit geschieht es, dass mir Begriffe die mir sonst geläufig waren nicht zur Verfügung stehen. Manchmal kann ich durch Nachdenken den Begriff auffinden und manchmal ersetze ich einen ähnlichen. Im Gespräch mit Hannah Bindewald über die Route avancierte die Talstation des Plattenhornliftes zur Bodenstation. Nicht alle Fehlleistungen sind gleichermaszen komisch, mitunter kommt es zu Plattitüden. Dies fällt auch meinen Mitmenschen auf. Weiterhin reklamieren sie meine manchmal (zu) laute Sprechweise.

Ebenso erwähnenswert erschien anderen mein "Autismus". Es schiene, so heisst es, als würde ich mir ganze Geschichten durch den Kopf gehen lassen, aber nur Fetzen davon äussern.
Meine Erfahrung dieses Phänomens zieht in erster Linie in Betracht, dass ich mich als einziger Bewohner meiner umgekehrten Welt fühle. Ich habe viel zu schauen, zu beobachten, muss an die Objekte meiner Umgebung denken, meine nächsten Bewegungen planen und erlebe mich auf diese Weise als ständig gut beschäftigt und bin für jede Pause davon dankbar und froh.
Mitunter habe ich eine grosze Sehnsucht, Gesichter zu sehen. Ohne die Umstände unmäszig zu komplizieren, kann ich diesem Bedürfnis nur gelegentlich und im Einzelfall nachgehen. Das Wiedererkennen des Gesichtes einer nahestehenden Person löst in mir nicht nur Befriedigung, sondern auch eine Spur Wehmut aus.
Zu diesem Gebiet gehört weiterhin, dass ich manchmal ganz gerne von den vielen kleinen Schwierigkeiten und Störungen meines Alltags berichten würde aber sehe, wie diese nicht in ihrer Breite und Dramatik verstanden werden können.

Ich bin der Meinung, dass für einen Versuch dieser langen Dauer ein gefestigtes Gemüt eine bedeutende Grundlage ist.


Nach Abnahme der Brille

13. April 2009

Das Versuchsende und die Abnahme der Brille am 9. April, dem 45. Versuchstag verlief völlig unspektakulär. Sofort war alles wieder wie gewohnt und normal. Keine Bewegungsstörung, keine sich aufdrängenden Bilder oder Erinnerungen, lediglich ein kurzes Blinzeln und Reiben der Augen.
Der einzige Nacheffekt trat nach Kopfbewegungen auf: Das gesamte Sehbild war verwackelt. Nach meinem Eindruck handelte es sich nicht um Mehrfach-Bilder sondern um ein Schwingen oder Wackeln mit abnehmender Frequenz, sobald der Kopf in Ruhelage kam. Die Erscheinung trat nicht bei Blickwendung oder Augenbewegung auf und hielt vier Tage mit deutlich abnehmender Tendenz an.

Die nachfolgenden Berichte wurden bis auf jene über Nachwirkungen während des Versuchs diktiert. Bei der Übertragung in diesen Bericht wurden sie durchgesehen und ergänzt.

Verschiedene Beobachtungen

11. Tag 07. März 2009
Innere Einstellung

Nach nunmehr einigen Tagen des Brilletragens hat sich mein Verhältnis zu meiner Seh-Welt nicht geändert. Es stört mich nicht im mindesten, die Bilder verkehrt herum zu sehen. Es kommt mir eher so vor, als würden die gesehenen Bilder nur eine Unterstützung für meinen Körper geben. Mein Lebensgefühl und meine Selbstwahrnehmung stützen sich offenbar nicht (mehr?) auf meine Seh-Welt. Was mich aus der Seh-Welt erreicht erlebe ich, als würden dem Zustand der Blindheit nun Bilder hinzugefügt.
Nicht mehr spontan in Gesichtern lesen zu können, habe ich als gravierenden Verlust erlebt, der sich aber mittlerweile, zumindest in Ansätzen, wieder behebt. Es ist schön, nach langen Wintertagen wieder im hellen Licht der Sonne zu stehen, und ich geniesze die sonnendurchdrungene Welt.
Gegen Abend bin ich erschöpfter als gewöhnlich und vermisse meine Nachtlektüre. Vom Nachmittag zum Abend nimmt der Druck auf Kopf und Nase zu und stört mich in meinem Wohlbefinden.
Den Tag über erlebe ich mich als einzigen Bewohner meiner Sehwelt und fühle mich ein wenig abgeschlossen vom Geschehen.
Alle geschriebenen Texte und Berichte muss ich diktieren. Zu formulieren fällt mir schwerer als gewöhnlich, was aber auf das ungewohnte Diktieren zurückzuführen sein mag.

Scheinbewegungen

Die von Kohler beschriebenen Scheinbewegung erlebe ich als das Ausbleiben des Mitwanderns von Seh-Bildern bei Kopfdrehung und Kopfneigung. Bei Bewegungen dieser Art wechselt der Inhalt meines Sehfeldes unmittelbar. Die sonst übliche "Trägheit" fehlte mir zunächst völlig. Ab dem dritten Tag trat zunehmend eine "Trägheitsdämpfung" in der horizontalen Ebene auf, die sich immer weiter entwickelt hat. Leider fehlt mir dieser Effekt in der Vertikalen, die sich noch sehr nervös verhält. Am schlimmsten empfinde ich die mangelnde Trägheitsdämpfung bei mehrachsigen Kopfbewegungen. Ist bei einer solchen Bewegung der Endpunkt mit dem Kopf nach unten erreicht, fehlt mir jeder Zusammenhang des neuen Sehbildes zum alten. Dann befinde ich mich in verwirrter und rätselhafter Lage.
Kleine Wackler beim Gehen und beim Fahren durch Unebenheiten und Schlaglöcher werden im Gegensatz zu den ersten Tagen nahezu vollständig stabilisiert.

Hilfen zur Bewegungskoordination

Am Abend des achten Tages konnte ich mit einer einzigen Bewegung ohne Korrektur die Zahnpasta auf die Zahnbürste bringen, dies ist jedoch kein mit Sicherheit eintretendes Ereignis.
Schwierige Bewegungen gelingen selbstverständlich im Laufe des Experiments immer besser. Es findet dabei eine kontinuierliche Entwicklung statt, die dem nachfolgend beschriebenen Muster entspricht.
In der ersten Stufe bin ich bemüht, Gegenstände mit der Hand oder an anderen Gegenständen entlang zu ihrem Bestimmungsort zu bewegen. Im Zweifelsfalle zwinge ich mich dabei, vom Gesehenen inneren Abstand zu gewinnen. Ich unterdrücke die Bedeutung des Sehbildes und muss in extremen Fällen die Augen dazu kurz schließen. Dies empfinde ich wie einen inneren Verzicht auf die Anerkennung des Gesehenen als Realität.
In der nächsten Stufe fixiere ich den Bestimmungsort im Bilde und bewege Hand und Gegenstand wie unter Verzicht auf Aufmerksamkeit dorthin. Das macht meist nicht eine schlussendliche Korrektur bis zur richtigen Lage erforderlich. Bei all diesen Vorgängen bevorzuge ich einhändige Bewegungen mit der rechten Hand. Das Erscheinen der linken Hand im Bild verursacht eine spontane Konzentrationsanforderung die mich irritiert.
In der dritten, jetzt beginnenden Stufe nehme ich gelegentlich die linke Hand mit ins Bild. Erscheint sie dort, erwacht spontan eine gespannte Aufmerksamkeit. Gleichzeitig mit dieser Neuerung tritt ein, dass die gesehenen Bilder und Bewegungen mit meinen Bewegungen einen Anflug von Harmonie erlangen, der ihnen bislang völlig fehlte.

Gehen

Kurven und Neigungen meines Gehweges sind immer noch schwer einschätzbar, haben aber nicht mehr den dramatisch irritierenden Effekt. Ich erlebe nur noch eine geringe "Nachjustierung" beim Gehen, die mir selbstverständlich erscheint. Das mag auch daran liegen, dass ich mittlerweile eine bessere Einschätzung für den Zeitabstand habe, der zwischen dem Verschwinden der Objekte aus meinem Sehfeld und dem Erreichen derselben mit meinen Füszen liegt.


15. Tag 11. März 2009

Spiegelbrille: Da sieht man alles auf dem Kopf.

Nicht falsch aber krass unvollständig. Meine Sehwelt steht auf dem Kopfe, solange ich geradeaus sehe, was der Fall ist, wenn ich in der Gegend herumstehe oder meinem Gesprächspartner gegenüber sitze. Wie oft wir allerdings im Alltag eine ganz andere Kopfhaltung einnehmen, ist uns meist wohl nicht bewusst.
Mit Spiegelbrille wird es deutlich – und kompliziert. Stühle beispielsweise sehe ich aus der Entfernung ganz richtig, nämlich falsch herum. Eine gewisse Heimtücke haben sie, wenn ich davorstehend auf sie runterschaue. Da vertauscht mir die Brille Hinten und Vorne. So sehe ich die Sitzfläche von mir abgewandt und meine Jacke über die Lehne zu hängen ist nicht so einfach.
Auch pikant sind seitliche Kopfneigungen, wie man sie macht, um die Schuhe aus dem Schuhschrank zu ziehen. Dabei vertauscht sich Rechts mit Links und da Schuhe gemeinerweise als Zwillingspaar auftreten, wollen dann die Füsze partout nicht reinpassen.
Vollends irritierend sind aber Blicke über die Schulter vom Stuhl aus oder der schräg geneigte Blick in die unteren Etagen von Schränken. Was ich dabei sehe bleibt mir rätselhaft und fremd.


26. Tag 22. März 2009

Landschaft

Sitze in Arosa auf 2000 Meter Höhe und schaue hinüber zum schneebedeckten Schafrugg. Unter der Schneebedeckung sind im unteren Bereich Neigungen um die 30 Grad, im oberen Bereich geschätzte 45 Grad, alles Wiese, nach oben hin mit zunehmenden Blöcken und Geröll. Abschluss bildet eine Felskette von gröszerer Neigung und einer Wandhöhe zwischen 50 und 100 Metern.
Der Schnee bedeckt so gut wie alle Blöcke, nur vereinzelte grosze Blöcke und Bäume sind noch sichtbar. Die Sonne steht im Zenit und leuchtet die Szene schattenfrei aus.
Ich erkenne und verifiziere Aufstiegsspuren, Spuren von Snowboardern und Skifahrern. Kleine Felskämme sehe ich genauso wie Hügel. Im Überblick erscheint mir dies als ein stimmiges Bild einer Schneelandschaft. Versuche ich allerdings die Lage von Landschaftselementen als erhaben, steigend, sinkend oder sonstwie zu erkennen und in Beziehung zu setzen, ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Die sinnvolle Anordnung einzelner Spuren auf dem Landschaftsprofil kann ich verstehen. Wechsle ich wiederum zurück in die Totale, erscheint mir das Bild zwar noch stimmig, aber ein funktionaler Zusammenhang von Spuren und Gelände leuchtet mir nicht ein. Dabei hilft mir auch nicht, wenn ich einen sich bewegenden Skifahrer mit den Augen verfolge.


41. Tag 05. April 2009

Radfahren

Gestern hatte ich für den ersten Fahrversuch ein Damenrad besorgt, was sich aber als unnotwendig erwies. Nach einer vorsichtigen Aufsitz-Probe war ich recht zuversichtlich und fuhr ein kleines Stück leicht geneigter Strasze hinunter. Das ging bis auf die Kurve so gut, dass gleich eine kleine Fahrt und ein Film in Angriff genommen wurden.
Die anfänglichen Kurven waren unrund und mit Besorgnis gefahren. Hier wie in allen anderen Fällen wurde aber mit ein wenig Übung recht zügig ein neues Normal erreicht. Bereits am nächsten Tag wurde eine weitere Tour – diesmal mit dem eigenen Mountainbike – angesetzt, die auch die Teilnahme am Verkehr einschloss.
Auffällig war, wie stark mich entgegenkommende Fahrzeuge auch einer recht engen Strasze irritierten. Meine Lenkbewegungen wurden unsicher und zackig. Ausserdem bemerkte ich, dass ich ständig zu weit links fuhr. Das könnte als Vorsichtsmasznahme gegen den rechten, unbefestigten Rand angesehen werden oder ist möglicherweise eine Überkompensation, da ich die Abstände auf der linken Seite sonst immer als zu grosz eingeschätzt hatte.


42. Tag 06. April 2009

Lesen

Beim Lesen scheine ich an eine Art Schallmauer gestoszen zu sein. Die Erschlieszung gebräuchlicher Wörter erfolgt inzwischen zügig und nur im Falle aussergewöhnlicher Wortbildung oder ungebräuchlicher Worte gerate ich ins Stocken. Dann muss ich mir Buchstaben für Buchstaben erklären.
Grösztes Hemmnis für den Lesefluss ist der Zeilensprung. Mit zunehmender Spaltenbreite steigt die Schwierigkeit, in der neuen Zeile an die zuletzt gelesene anzuknüpfen. Trotz vieler gelesener Zeilen konnte ich diese Schwierigkeit nicht überwinden. Bin ich etwas zappelig – mein Sehbild wackelt – , kann es sogar vorkommen, dass ich zwei oder drei Versuche für den korrekten Anschluss brauche. Die Angewohnheit, beim Frühstück die Zeitung zu lesen ist nun in zwei Tätigkeiten zerfallen weil die Kaubewegung allein ausreicht, mir mein Bild zu verwackeln.

Schon seit Beginn des Versuchs fehlte mir als Viel-Leser die Motivation, jenes neue Alphabet zu erlernen. Da mir durch keinen Trick gelang, eine künstliche Motivation dafür aufzubauen, blieb diese Lernschwelle über den gesamten Versuch unverändert, auch wenn die Durchschnittswerte der Lesegeschwindigkeit langsam gesunken sind. Beim Lesen wie in allen anderen Fällen fehlt mir bis heute die Fähigkeit zum Überblick vollständig.

Gleichgewicht

Durch den gesamten Versuchszeitraum blieb das angekündigte Schwindelgefühl im wesentlichen aus. Drehen im Kreise auf dem Marktplatz, Kopf nach hinten überhängen auf der Schaukel und nach dem Radfahren waren die Gelegenheiten, bei denen ein nennenswertes Schwindelgefühl auftrat. Dennoch waren auch diese Empfindungen nicht gravierend und temporär.
Durch den Versuchszeitraum hindurch habe ich verschiedene Techniken entwickelt um Schwierigkeiten am Boden zu reduzieren oder zu vermeiden. Beim Gehen drückt sich das dadurch aus, dass ich in der Regel einen vorsichtigen Gang benutze. Nach meiner Beobachtung vermeide ich dabei die Aufrichte, weil ich die Empfindung habe, dann Bodenneigungen und Unebenheiten die meinem Blick verborgen sind, vollständig ausgeliefert zu sein. Sehe ich gerade, freie Flächen vor mir oder bewege ich mich auf gut vertrautem Gelände, richte ich mich nahezu zur normalen Gangart auf. Nach einer äusseren Beschreibung wurde mein Vorsichts-Gang als hutzelig beschrieben.
Für Treppen, die nach oben führen, habe sich die Technik entwickelt, mit der Fuszspitze vorsichtig gegen die erste Stufe zu treten. Die vermeintlich letzte Stufe nehme ich mit groszer Vorsicht und tue gut daran, denn schon oft gab es sie nicht. Abwärts schlürfe ich mit kleinen Schritten an den Punkt, wo sich der Boden unter dem Fusz nicht mehr fortsetzt. Dann suche ich das Geländer und wechsle in Vorsichts-Haltung, wenn die letzte Stufe naht. Bei gelegentlichen Fehlkalkulationen schlagen mir 250g auf die Nasenwurzel und unterstützen die Lernbemühung.
Bei Betontreppen oder wenig gestalteten Treppen taucht nach wie vor als erstes die Rätsel-Frage auf, ob diese nach unten oder oben führen. Dieses Rätsel blieb über die Versuchsdauer ungelöst.
Freie Treppen ohne Geländer oder Wand bleiben ein Gräuel. Hierfür wurde speziell die Vorsichtstechnik zweiten Grades entwickelt, die einem Balancieren recht ähnlich ist.

Ich bezweifle, dass die Schwierigkeiten im Gang und das unsichere Gefühl beim Treppensteigen eine unmittelbare Störung des Gleichgewichtssinnes sind. Vielmehr erscheint es mir, als sei die Widersprüchlichkeit von Sehbild und Körperbewegung ein Auslöser für eine Art Unentschlossenheit in den Bewegungen. Dieser Eindruck wird unterstützt durch Beobachtungen meiner kleinräumigen Bewegungen im Sitzen oder Stehen. Als weiteres spricht für diese Anschauung, dass nach anfänglichen Bedenken (ich wählte ein Damenrad) das Radfahren völlig unproblematisch verlief. Meine ersten Kurven waren zwar ganz zackelig, doch das fortwährende Auftreten dieser Unsicherheit bei entgegenkommenden Autos scheint mir meine Ansicht der Unentschlossenheit zu bestärken.


44. Tag 08. April 2009

Klettern

Erst gestern war nach einer längeren Periode schlechten Wetters ein Kletterausflug ins obere Donautal möglich. Auf dem schmalen Zuweg zum Felsen, der sich nahezu waagerecht eine gehörige Strecke am Hang entlang zieht, lag noch viel Laub und erschwerte mir den Gang. Auch den ausgesuchten Felsen zu finden, war nicht einfach, denn falsch herum sehen sie sich alle sehr ähnlich.
Die hin- und herpendelnde Treppe aus Natursteinen und Holz bot bereits ein ernstzunehmendes Hindernis, was teilweise auf allen Vieren überwunden wurde. Umziehen, Anlegen der Gurte und Einbindeknoten stellten kein Hindernis dar. Bekanntlich kann ich das auch Nachts und ohne hinzusehen. Einhängen der Karabiner und speziell das Einhängen von Knoten in den Karabiner bereiteten die bekannten Anfangsschwierigkeiten. Nach wankender Entscheidung wählte ich doch den Vorstieg, wollte es zumindest einmal probiert haben obwohl ich durch die vorangegangenen Anstrengungen und Schwierigkeiten schon ein wenig belastet war.
Dass mein Sehbild falsch herum ist, wusste ich hinreichend und fand es nicht schwierig, dies zu berücksichtigen. Die stark eingeschränkte Sicht stellte sich als Hauptproblem dar. Es war nicht möglich, die Route oder ein System von aufeinanderfolgenden Griffen und Tritten zu erkennen. Da Klarheit über die Eigenschaften des gefundenen Tritts nur durch den Blick nach unten zu gewinnen ist, muss ich ständig den Kopf in der Vertikalen bewegen, wobei seitliche Blickrichtung eingeschlossen wird. Zusätzliches Erschwernis war der Blick nach oben, weil an der steilen Wand der gewünschte und benötigte Ausblick zur Gleichgewichtsverlagerung von der Wand weg führt. Das wiederum gefährdet die Standsicherheit über das übliche Masz hinaus.
Nach einigen Minuten des Probierens musste ich nach zunehmender Kraftanstrengung und Verunsicherung das Vorhaben aufgeben. Anschlieszend bin ich im Nachstieg ohne weitere Probleme zwei Seillängen geklettert. Diese Form ist einfach, weil ich das Seil als Orientierung ständig im Blick halten kann. Allerdings habe ich auf diese Art einen kleinen Überhang bewältigt, der im normalen Routenverlauf nicht eingeplant ist.
Nach der überaus anstrengenden Aktion war mir der Rückweg, zunächst abwärts, dann im Halbdunkel, eine erhebliche Strapaze.